Wie alles begann

Anfang 1995 muss die Schweizer Regierung zur künftigen Landesausstellung unter drei Interpretationen eine Wahl treffen. Genf präsentiert mit einem Projekt über das Gehirn die Zentralität als generierendes Prinzip. Das Tessin entwirft mit «Die neuen Grenzen» ein Territorium, das von Polaritäten lebt. Für das Drei-Seen-Land stellen Laurent Geninasca, Luca Merlini und Michel Jeannot ihr Konzept des Territoriums als Netzwerk vor, Die Zeit oder die Schweiz in Bewegung. Der Bundesrat hat den Mut, den letzteren, zweifellos gewagtesten Vorschlag auszuwählen, der das Unbestimmte, Zufällige zum Funktions- und Gestaltungsprinzip macht. Die Landesausstellung wird so – entgegen ihrer leicht angestaubten Tradition – zum grossen Laboratorium, mit dem die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen «Territorien» von heute erkundet werden. In der räumlich stark verdichteten Schweiz, die keine weiteren Konzentrationen mehr verkraftet, drängt sich die Idee auf, dem Netzwerk selbst die Rolle des Ortes, der Zeit und des szenografischen Raumes zuzuordnen: Die Seen, Landschaften und Städte vernetzen sich zu navigierbaren programmatischen Räumen.

Drei Elemente bestimmen die Ausstellung: Die Arteplages – in Biel, Murten, Neuenburg und Yverdon-les-Bains – sind thematisch gestaltete vergängliche Orte, deren urbane Struktur einen neuen Bezug zwischen Stadt und See herstellt. Die Ateliers-passagers, Orte für Ausstellungen und Experimente, verkehren auf den drei Seen und verbinden die Arteplages. Die Besucher wechseln auf den Seen von einem Atelier zum anderen und gelangen so – keiner vorgeschriebenen Route, sondern vielmehr dem Zufall folgend – in eine neue Umgebung, wie man die Zeitzone wechselt. Die Helvéthèque ist eine künstliche Insel und Kreuzungspunkt der Reiserouten sämtlicher Ateliers. So ist die Funktionsweise der Landesausstellung gleichzeitig ihre Inszenierung: ein aquatisches Gesamtkunstwerk in ständiger Bewegung. Ihre Struktur ist eine Metapher für den Föderalismus der Schweiz, für das Bemühen um harmonische Ganzheit bei allen Verschiedenheiten. Die Schweiz in Bewegung ist ein Szenario für den «contrat spatial», den Raum-Vertrag. Hin- und hergerissen zwischen dem totalen Experiment und den Zwängen einer Machbarkeitsstudie (1995), welche das Projekt als durchführbar einschätzt, stellt sich die Frage: Wie soll die erste Landesausstellung des 21.Jahrhunderts aussehen? Angesichts der Tragweite dieser Frage nehmen die internen Spannungen zu. Schliesslich werden die Projektverfasser ausgeschaltet. Ab 1996 folgt ein Direktions- und Planungsteam dem anderen. Vielleicht ist das der Grund, warum die Expo.02 ein gemeinsames work in progress geblieben ist: Jeder eignet sich das bereits Gemachte an und erweitert es um seine Vorstellungen. Was ist aus dem ursprünglichen Konzept geworden? In einer zeitgenössischen Architektur, die auf bezaubernde Weise mit Volumen, Hüllen und Rastern spielte, hat die Expo.02 die naturnahe Landschaft gewürdigt und eine Balance zwischen Avantgarde und Volksempfinden gefunden. Im Verlaufe ihres Reifeprozesses hat sie indessen darauf verzichtet, eine neue Beziehung zwischen Raum und Bewegung herzustellen. Obschon dezentral, griff sie auf ein traditionelles Konzept zurück: auf eine Abfolge von Pavillons, die von einer für jede Arteplage typischen Ikone beherrscht werden. Dieser Verzicht hatte zur Folge, dass die Expo.02 schliesslich eher eine – wohl geglückte – monumentale Darstellung gegenwärtiger Swissness war als ein praktisches Instrument in Originalgrösse zur experimentellen Raumerfahrung.

Luca Merlini, 2003, aus der Publikation Architecture.Expo.02